In der Zukunftsforschung und strategischen Vorausschau sind utopische Visionen ein kraftvolles Werkzeug, um Möglichkeiten zu erkunden, die unsere gegenwärtigen Annahmen herausfordern und innovatives Denken anregen. Diese spekulativen Zukünfte sollen keine unmittelbaren Lösungen bieten, sondern als Linse dienen, durch die wir bestehende Strukturen und Ideologien der Gegenwart kritisch hinterfragen können. Mit der Präsentation von alternativen Szenarien öffnen wir die Tür zu neuen Ansätzen, über die Zukunft nachzudenken und regen Debatten darüber an, was sich verändern könnte oder sollte.
Vor diesem Hintergrund bietet Birthe Menke, ehemalige Doktorandin an University of Southern Denmark und Kollegin bei der 4strat, eine faszinierende Perspektive auf Andersmöglichkeiten in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft. In ihrem Manuskript "LEISURE > work: Or That Time in 2050 When the Tourism Industry was Called into a Post-Labor Era” zeichnet sie ein zum Nachdenken anregendes Bild der Tourismusbranche im Jahr 2050, in dem der Wert von Freizeit und Arbeit hinterfragt wird.
Eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Arbeit und Freizeit
Bis 2050 könnten wir einen radikalen Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Zeit und unserer Herangehensweise an Work-Life-Balance erleben. Menke stellt sich eine Zukunft vor, in der die traditionellen Strukturen von Arbeit und Vergütung transformiert werden, wobei Freizeit als wesentlicher Bestandteil eines erfüllten Lebens in den Mittelpunkt rückt. In dieser Zukunft ist Freizeit nicht nur eine Ressource, die für diejenigen reserviert ist, die sie sich leisten können; Freizeit und die Freizeitindustrie werden zu einem Symbol für die dringende Frage, was in der heutigen Gesellschaft als sinnvoll verbrachte Zeit (oder “quality time”) gilt.
Dementsprechend fordert die Utopie eine gerechte Behandlung derjenigen Arbeiter:innen, die überhaupt erst Freizeiterlebnisse möglich machen, und stellt eine neue Bewegung vor, die eine Bewertung von Freizeit fordert, die die von allgemeiner Arbeitszeit übersteigt. Während das Manuskript ausdrücklich kein Fahrplan für eine weitere Kommerzialisierung der Freizeit ist, zielt es darauf ab, eine Dissonanz mit dem Status Quo darüber zu erzeugen, wie kommerzialisiert menschliche Zeit bereits geworden ist.
Was diese Zukunft so faszinierend macht, ist nicht nur ihr utopischer Anspruch, sondern auch die Anerkennung der Belastungen, denen die Arbeitnehmer in Branchen wie dem Tourismus seit Jahrzehnten ausgesetzt sind. Diese Branchen haben sich lange Zeit auf genau die Menschen verlassen, die oft den geringsten Zugang zu den Freizeitangeboten haben, die sie selbst schaffen. Die Möglichkeit, Freizeit gerechter zu verteilen, zwingt uns dazu, die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern neu zu überdenken, sodass Arbeiter:innen nicht nur bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch sinnvolle Möglichkeiten für Erholung und Erneuerung erhalten.
Die Rolle des Tourismus in dieser neuen Landschaft
Der Tourismussektor war schon immer ein wichtiger Akteur bei der Gestaltung unserer Freizeiterfahrungen und deren Wertschätzung. Doch während die Branche über diese neu gedachte Zukunft sinniert, könnte sich der Fokus von der Kommerzialisierung von Reiseerlebnissen hin zur Schaffung von Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung auf allen gesellschaftlichen Ebenen verlagern. Das Bestreben, den Zugang zu Freizeit zu demokratisieren, geht nicht nur um gleichen Lohn; es geht darum, die grundlegende Dynamik zwischen Arbeit und Freizeit in Frage zu stellen.
Die Vision für das Jahr 2050 wirft provokante Fragen auf über das Potenzial der Tourismusbranche, sozial-gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben. Wie kann der Sektor darüber hinausgehen, lediglich eine Flucht aus dem Alltag und hochgradig inszenierte Freizeiterlebnisse zu verkaufen, und stattdessen zu einer Zukunft beitragen, in der Freizeit ein Grundpfeiler des Wohlbefindens wird? Die vorgeschlagenen Veränderungen fordern die Tourismusbranche dazu auf, sich mit den Ungleichheiten auseinanderzusetzen, die in ihren Strukturen bestehen – Ungleichheiten, die lägst reif für Veränderung sind.
Eine neue Ära der Freizeit
Diese Vision der Zukunft wirft auch tiefgehende Fragen auf: Was bedeutet es, “gute” Freizeit zu erleben? Wie kann die Tourismusbranche authentische, qualitativ hochwertige Erlebnisse bieten, die nicht nur als kommerzialisierte Flucht vor der Arbeit dienen? Das LEISURE > work Manifest fordert uns auf, unser Verhältnis zur Freizeit zu überdenken und zu hinterfragen, wie Branchen wie der Tourismus eine Gesellschaft unterstützen können, in der Freizeit genauso viel, wenn nicht mehr, wertgeschätzt wird als Arbeit.
Bei 4strat sind wir bestrebt, aufkommende Szenarien zu untersuchen und etablierte Annahmen infrage zu stellen. Indem wir die Prinzipien der strategischen Vorausschau anwenden, möchten wir die treibenden Kräfte, Unsicherheiten und potenziellen Umwälzungen identifizieren und verstehen, die Branchen wie den Tourismus in den kommenden Jahrzehnten prägen werden.