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Zeitdomestizierung in der Zukunftsvorausschau: Wie das moderne Geschichtsdenken unsere Wahrnehmung des Neuen prägt

5. Dezember 2024
Zeitdomestizierung in der Zukunftsvorausschau: Wie das moderne Geschichtsdenken unsere Wahrnehmung des Neuen prägt

by Ana Keser

Die Zukunftsforschung geht in der Regel von einem linearen Zeitverlauf aus, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nahtlos aufeinander folgen. Diese Annahme erscheint so selbstverständlich, dass alternative Vorstellungen von Zeit und Entwicklung oft vernachlässigt werden. Was aber, wenn dadurch die Darstellung und Wahrnehmung neuartiger Phänomene eingeschränkt wird?

Das Konzept der Zeitdomestizierung des Historikers Zoltán B. Simon (2021) bietet eine interessante Perspektive, um das westlich-moderne Verständnis von Geschichte als prozesshafte Entwicklung kritisch zu reflektieren. Die Zeitdomestizierung beschreibt eine kognitive Strategie, mit der Neues als Teil eines übergreifenden Geschichtsprozesses beschrieben und dadurch vertraut gemacht werden soll. Drei sprachliche Mittel sind dabei zentral:

  • Umschreibung des Neuen: Indem neue Entwicklungen mit bekannten Begriffen und Konzepten beschrieben werden, erscheinen sie vertrauter.
  • Setzen von Zeitmarken: Historische Bezüge oder Aussagen wie "schon immer" schaffen Verbindungen zwischen Vergangenheit und Zukunft.
  • Herstellung von Kontinuität: Das Neue wird als logische Fortsetzung des Bestehenden dargestellt.

Diese Mechanismen vermitteln den Eindruck, dass Zukünftiges machbar und erstrebenswert ist, insbesondere wenn damit Vorstellungen von Fortschritt verbunden sind. Sie können aber auch eine Kehrseite haben: Das Neue als das radikal Andere und von Gegenwart und Vergangenheit Entkoppelte wird in diesem fortlaufenden Prozessschema entschärft. Es wird schwieriger, seine Neuartigkeit und Handlungsdringlichkeit zu erkennen.

      Wie wir Zeit und Entwicklung verstehen, hat entscheidenden Einfluss darauf, wie wir über die Zukunft denken. Eine kritischere Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Zeitdomestizierung könnte uns helfen, die Grenzen des Denkens in Kontinuitätslinien besser zu verstehen und daraus Erkenntnisse für die Darstellung von Zukunftsbildern zu gewinnen. So könnte die Zukunftsforschung ihrem eigentlichen Ziel, der Antizipation des Unerwarteten, vielleicht einen Schritt näher kommen.

          Quellen:

          https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/0961463X211014804 https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/hith.12190